Leider bekomme ich meinen ursprünglichen Post, der hier vollkommen geschluckt wurde, nicht mehr hin. Und jetzt ist auch alles eine Weile her und bei weitem nicht mehr so emotional aufgeladen, wie es noch vor ein paar Tagen war. Das Lied von der Beerdigung verfolgt mich zwar immer noch, aber so langsam wird doch alles ein wenig normaler, alltäglicher.
L.ife is Strange hat geschafft, was lange kein Spiel, kein Medium hinbekommen hat: es hat mich in seine Geschichte hinein gezogen, mich emotional mit den Charakteren verwoben, sie an mich gebunden, als ob sie ein Teil meiner eigenen Geschichte wären. Es waren harte Entscheidungen zu treffen, an deren Ausgang das Leben von Personen hing, die wir lieb gewonnen haben. Sei es Kate, die man unbedingt beschützen möchte oder Chloe, deren ruppige und doch so vertraute Art an die eigenen Freunde aus der Kindheit erinnert – wenn man diesen zufällig begegnet ist alles vertraut wie früher, auch wenn so vieles anders ist. Seien es die ganzen anderen, denen wir helfen konnten, Dana, Alyssa,…
Eigentlich möchte ich mich aber erst noch zu der Entscheidung zwischen dem Leben Chloes und Arcadia Bay äußern.
Zunächst habe ich mich ganz klar für Chloe entschieden, ganz einfach weil die Bindung so stark war und wir so vieles riskiert und investiert haben, als dass man jetzt noch einen Rückzieher machen könnte. Auch die Nähe zu Chloe, die Freundschaft und Verbundenheit waren Faktoren, sowie ein klein bisschen Eifersucht, wann immer Chloe den Namen Rachel nannte. Das Wohl einer einzelnen, wichtigsten Person über das Wohl von Vielen gestellt. Aber letztlich war das eine Entscheidung aus dem Bauch heraus – die ich dann in Betrachtung des anderen Endes revidierte.
Weil ich gesehen habe, wie Arcadia Bay ohne Sturm sein kann. Weil ich gesehen habe, wie Joyce und David näher zusammen gerückt sind durch das gemeinsame Leid und weil ihre Zukunft zwar viel zu verdauen hat, aber diese gegeben ist. Weil all die Bösewichter im Gefängnis gelandet sind, es keine weiteren Opfer mehr gibt und so viele Leben weiter an ihrer Zukunft arbeiten können. Weil das Wohl von Vielen doch über dem Wohl eines einzelnen stehen sollte.
Und inzwischen stelle ich mir schon wieder die Frage: kann das sein? Star Trek 2/3 hat den Zuschauer schon einmal vor dieses moralische Dilemma gestellt. Wie kann man ein einzelnes Leben – das Wohl des Einzelnen – mit vielen Leben vergleichen? Das einzelne Leben ist ebenso unbezahlbar wie viele Leben jedes für sich unbezahlbar sind. Unendlich mal x ist immer noch Unendlich, aber ein größeres Unendlich? Also eine Frage der Quantität? Aber was ist dann mit dem persönlichen Bezug, was man gemeinsam durchgemacht hat, was einen zusätzlich bindet? Die Vergangenheit, Freundschaft, Liebe, Emotion, Verbundenheit. Das würde auf eine Frage der Qualität schließen – nicht der des einzelnen Lebens, sondern der persönlichen Beziehung. Eine Form des Egoismus also? Das ist zumindest das, was Gronkh im Falle der Opferung Arcadia Bays unterstellt hat. Eine gültige Meinung. Aber nicht die einzig mögliche Betrachtungsweise.
Es scheint in der Fragestellung zunächst alles darauf hinaus zu laufen, ob ich die Situation subjektiv bewerte oder versuche, objektiv zu sein. Aber diese Einschränkung fesselt zu sehr. Denn irgendwie möchte ich schon beides – Quantität und Qualität als Argument – unter einen Hut bekommen können. Und wie immer, wenn man vor einem unlösbaren Widerspruch steht, heißt die Lösung: schaue auf das nächste größere Bild, das bigger picture, versuche Abstand und Zeit zu gewinnen und triff dann die Entscheidung.
Und wenn Max etwas hat, dann ist es Zeit.
Die nächste Ebene, was ist das hier? Leicht ist man geneigt, “der Sinn des Lebens” zu sagen, eine Fragestellung, die keineswegs leichter ist. Aber in diesem Fall ist es nicht das Warum des Lebens, sondern das Warum, wie wir in diese Situation überhaupt gekommen sind. Und dann kommt man sehr schnell auf eine einzige Antwort: weil Max plötzlich die Zeit zurückdrehen kann. Nur das befähigt, solche Entscheidungen treffen zu können – zu müssen! – aber gleichzeitig übergibt es Max die Verantwortung, was aus den unvorhersehbaren Konsequenzen jeder Veränderung wird. Wo kommt also diese Fähigkeit her? Warum hat Max diese Fähigkeit?
Und plötzlich stellt sich nicht mehr die Frage nach einem moralischen Dilemma, sondern nach der Sinnhaftigkeit der Fähigkeit an sich und dem Argument, dass diese Fähigkeit nicht grundlos plötzlich entstanden sein kann. Und hierfür gibt einen brisanten Hinweis. Diese wurde auf der ersten Seite des Tagebuches genannt und ist für mich der alles entscheidende Schlüssel: “THIS DOES NOT EXIST”. Auffällig gleich zu Beginn in riesen Buchstaben am 7. Oktober dargestellt, so dass jeder es lesen muss, denn auf die erste Seite wird jeder geführt. Aber was bedeutet es?
Wenn man jetzt den Bezug auf die ersten und die letzten Szenen (im Ende der Opferung von Chloe) nimmt, dann erkennt man: alles, was in dem Spiel passiert ist, ist nie passiert. Dadurch, dass Max die Fähigkeit nicht nutzt, um Chloes Tod zu verhindern, ist alles so, als ob sie die Fähigkeit nie gehabt hätte. Und selbst ob sie sie jetzt noch besitzt ist nicht klar. Alles, woran sie sich jetzt erinnert, ist nie wirklich passiert, es ist wie ein Traum, ein Augenblick der Irritation im Raumzeit-Gefüge.
Aber kann das der Sinn sein, warum Max die Fähigkeit bekommen hat? Nur um sie nicht zu nutzen und somit alles zu negieren – nicht existent zu machen – wie bei Indiana Jones 1, der bekanntermaßen ein Film ist, in dem alle Ereignisse dennoch genau so stattgefunden hätten, wenn es den Hauptdarsteller Indy nie gegeben hätte? Also Nihilismus in Reinform?
Und die Alternative: der Sturm. Der kein Zufall ist, denn er ist direkt mit der Fähigkeit von Max verknüpft. Nicht mit der Rettung von Chloe! Die ist da komplett außen vor!
Die Fähigkeit der Zeitreise hat als Nebenbedingung, dass sich Ursache und Wirkung umkehren können, etwas, das relativistisch in unserem Universum so nicht vorkommen sollte und zu Komplikationen führt. Durch die Zeitreisen werden nachfolgende Wirkungen zu Ursachen für vorhergehende Entscheidungen. Es entstehen Paradoxen, die nicht mehr abbildbar sind wie das berühmte Großvater-Paradoxon: Wenn man in die Vergangenheit reist und seinen eigenen Großvater vor der Zeugung des Vaters tötet, wie kann es dann sein, dass man seinen eigenen Großvater getötet haben wird, obwohl man nie geboren worden sein wird (die Zeitformen der Verben werden verwirrend ^^)? Ähnliches entsteht hier, Max springt vor und zurück – teilweise zu Zeitpunkten, bevor sie die Fähigkeit überhaupt hatte (und schon haben wir ein Paradoxon) – und nimmt Veränderungen vor, die sich dann wieder auf die Ursache für die Zeitreise auswirken, sodass sie nie einen Grund hatte, diese so zu machen. Oder auf Gespräche, sodass sie Dinge weiss, die sie nicht wissen sollte. Sie verändert mit ihrem neu erworbenen Wissen die Zeitlinien immer mehr, bis sich nichts mehr entflechten lässt und es zum Sturm, dem Zusammenbruch der Realität, kommen muss.
Was also immer uns die Fähigkeit gegeben hat, die Zeit zu manipulieren ist gleichzeitig bereits Auslöser für den Sturm. Was ist also der Sinn davon?
(Eine Erklärung übrigens, warum der Sturm in Arcadia Bay ist und nicht in SF: dort waren die meisten Auswirkungen ihrer Paradoxien, all die Situationen in unterschiedliche Zeitlinien waren auf einen sehr kleinen Personenkreis mit sehr begrenztem Umfeld beschränkt. Und auch in AB hat alles mit einem kleinem Lüftchen angefangen. Nicht auszudenken, wenn Max in SF auch alles mögliche manipuliert hätte).
Es ist nun keine moralische, sondern nur noch eine existenzielle Frage von Max’ Fähigkeit, der wir uns stellen müssen und deren Antwort dazu führt, ob Chloe lebt oder stirbt. Und damit sind wir plötzlich der Verantwortung – zumindest teilweise – enthoben, man kann sogar sagen, das Verleihen der Fähigkeit soll zur Zerstörung von Arcadia Bay führen – so sah es ja die erste Vision bereits vor. Vielleicht, weil Veränderungen manchmal sein müssen, vielleicht, weil die Stadt ohnehin am Sterben war, vielleicht weil Korruption und Moral am Boden waren, Menschen mehrere Jobs brauchten, um noch existieren zu können, oder auf der Straße leben müssen. Vielleicht muss Arcadia Bay sterben, um Platz zu machen für etwas Neues, und vielleicht muss Chloe leben, um als Hoffnung dazustehen, dass etwas Gutes aus dem Ganzen erwächst.
Letztlich ist also Max’ Entscheidung nicht, wer geopfert wird, Chloe oder die ganze Stadt. Es ist eine Entscheidung der Sinnhaftigkeit ihrer Fähigkeit und ihres eigenen Seins. Und wenn wir nicht sein dürfen wer wir sind mit allen jeweiligen Konsequenzen, das cogito ergo sum der Nichtexistenz gegenübersteht, dann ist die Wahl für mich plötzlich einfach: Arcadia Bay muss weichen, um der Hoffnung auf etwas Neues Platz zu machen. Weil das war schon vorherbestimmt, als wir die Fähigkeit erhalten haben. Ansonsten würde nur der Selbstmord von Max übrig bleiben – als Sieg des Nihilismus über die Existenz (und weil Max’ offensichtlich psychisch zerstört werden soll. Anders kann man diese Folter, die Freundin wieder und wieder sterben zu sehen, kaum bezeichnen, wenn man am Schluss auch noch mit der endgültigen Rettung scheitert). Und selbst zum Ende des Spiels ist nicht bekannt, ob Max die Zeit noch immer zurück spulen kann. Weil wenn sie nochmal jemanden wie Kate retten könnte, würde es spätestens dann zum Zusammenbruch führen, wenn sie es nicht tut. (Vgl. True Q)